“Wahnsinn, wie die Sitten in unserer Branche verrohen” – ein Plädoyer für Anständigkeit in Zeiten der Disruption

Digitale Disruption ist noch lange kein Grund, mit unlauteren Mitteln zu kämpfen oder ethisches Verhalten in der Arbeitswelt aus den Augen zu verlieren. Es wird Zeit, sich auf alte Werte zu besinnen. Und da kann man von jungen Journalisten und Medienmachern eine Menge lernen. Anne-Bärbel Köhle, Chefredakteurin des Diabetes Ratgebers vom Wort & Bild Verlag, schreibt in der Essay-Reihe Werteorientierte Digitalisierung in Kooperation mit der Hamburg Media School ein Plädoyer für Anständigkeit und Zusammenarbeit.

Von Anne-Bärbel Köhle

Neulich beim Feierabendbierchen mit Kollegen verschiedener Redaktionen: Wir unterhielten uns nach dem Motto: “Wahnsinn, wie die Sitten in unserer Branche verrohen.” Ein Kollege berichtete, mit welchen armseligen Honoraren eine große renommierte Wochenzeitung seine freien Mitarbeiter abspeist – Begründung: Das Unternehmen müsse sparen, die Abo-Zahlen gingen zurück, digitale Entwicklung koste Geld. Eine andere Kollegin erzählte, wie ihre Podcast-Idee von einer Kollegin geklaut und bei der Geschäftsführung als eigene verkauft wurde.

Ein weiteres Beispiel: Ein großer, international agierender Verlag kopiert derzeit das Geschäftsmodell eines anderen Medienhauses, macht jede einzelne von dessen Zeitschriftentiteln in Konzept und Aufmachung nach, so dass es Zeitschriften nun quasi doppelt auf dem Markt gibt. Zeitgleich liefert der Nachmacher an seine möglichen Neu-Kunden gleich ein Abbestell-Fax für die Hefte des Traditionsunternehmens mit. Solche Kopier- und Plattmacher-Methoden kannte ich bislang eigentlich nur von auf Messen herumspionierenden chinesischen Technologiekonzernen. Die altmodische Sache mit dem Fax greift auch im Osten der Republik um sich: Dort verteilt derzeit eine rechtsnationale Partei Abbestell-Briefe für die örtliche Tageszeitung, in der eine befreundete Redakteurin arbeitet: Weg mit der Lügenpresse!

Agieren wie bei einer Schulhofschlägerei

Sind wir in Zeiten der Digitalisierung wirklich darauf angewiesen, schlecht zu zahlen, anderen die Ideen zu mopsen oder zu versuchen, um jeden Preis unliebsame Mitspieler plattzumachen – nur um selbst zu überleben?

Hätte einer meiner inzwischen erwachsenen Söhne auf dem Schulhof versucht, mit miesen Mitteln einen Mitschüler aus dem Feld zu drängen oder dessen Schularbeit als seine eigene auszugeben, hätte ich ihm ein ernstes Einzelgespräch mit folgendem Inhalt aufgedrückt: Dein Verhalten schadet nicht nur einem anderen, sondern auch Dir selbst, Deiner Familie, Deinen Schulkameraden, der ganzen Schule. Das. Geht. Gar. Nicht.

Miese Methoden – mieses Image

Übertragen auf Kommunikationsmedien bedeutet dies: Fiese Methoden schaden der ganzen Branche. Gerade in Zeiten der Digitalisierung und des zunehmenden Schwundes bei Lesern, Hörern und Zuschauern ist es wichtig, anständig zu bleiben und zu agieren und, wenn möglich, zusammenzuhalten. Dies ist der Kitt fair funktionierender Beziehungen auf allen Ebenen – zwischen Kollegen, zwischen Chefs und Angestellten, zwischen Redaktionen und Freien, zwischen Verlagshäusern, zu Kunden und/oder Usern oder zu Wählern.

Leider aber bröselt dieser Kitt an vielen Stellen: Denn wir alle sind in Zeiten der Digitalisierung mit einem elementaren Überlebenskampf beschäftigt, der es gerechtfertigt scheinen lässt, selbst die primitivsten Manieren außer Acht zu lassen. Was dabei viele nicht bedenken: Am Ende verlieren alle.

Es geht aber auch anders. Das habe ich im Laufe des letzten Jahres erfahren – als Teilnehmerin des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School und Facebook. Mit meinen mehr als 30 Berufs- und 56 Lebensjahren bin ich der älteste Fellow. Inzwischen, nach einem knappen Jahr, hat sich nicht nur mein Wortschatz um eine Menge Buzzwords erweitert. Ich spüre auch: Hinter diesen Wörtern stecken kluge Ideen, von denen man sich trefflich inspirieren lassen kann. Diese Ideen können vielleicht dazu führen, dass wir Medienschaffende die digitale Disruption und das Verblassen von Print nicht nur weniger zerzaust überstehen – sondern auch deren Chancen nutzen.

Lieblings-Buzzword: Kollaboration

Meine beiden Lieblingsbuzzwords in diesem Zusammenhang heißen: Kollaborativ arbeiten. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das mal sage. Denn ich bin sozialisiert in eine Generation von Journalisten, die bevorzugt als Einzelkämpfer agierte, ausgestattet mit dem unbedingten Wunsch, die Erste, die Beste, die Schnellste zu sein. Und jederzeit bereit, dafür die Ellenbogen auszufahren.

Aber so funktioniert das nicht mehr. Denn das würde ja voraussetzen, dass ein Einzelner in allen Disziplinen fit ist, die heute gefragt sind, um sich selbst, eine Redaktion oder einen Verlag durch digitale Wildwasser zu führen: Social-Media-Kompetenz, Daten-Wissen, technischen Überblick, Programmier-Erfahrung, AI-Affinität, betriebswirtschaftliche Kenntnisse – und natürlich die klassischen journalistischen Fertigkeiten, derer es bedarf, um eine gute Story zu erkennen und einen prima Text zu schreiben.

Weshalb es wesentlich cleverer ist, zumindest ab und an in Teams zusammenzuarbeiten. Zum Wohle aller. Das aber setzt einen Mindest-Kanon an Benehmen, Fairness und Selbstreflektion voraus. Nur dann entsteht Vertrauen und die Möglichkeit, sein Wissen mit anderen zu teilen – und im Gegenzug von der Expertise anderer zu profitieren.

Wenn Verlage an einem Strang ziehen

Diese zugegeben idealisierte Welt existiert bereits. In meinem Jahr als Digital-Journalism-Fellow bin ich dabei gelegentlich nicht aus dem Staunen herausgekommen: So waren wir 20 Fellows zusammen mit unseren Dozierenden fast eine Woche lang Gast in einer großen Presseagentur, die uns bereitwillig und tiefgreifend Auskunft gab, was sie tut, um mehr Kunden an sich zu binden. Professor Jeremy Caplan vom Tow-Knight-Center for Entrepreneurial Journalism kam nach Deutschland, um uns eine Inneneinsicht zu geben (Buzzword: Insight), mit welchen journalistischen Mitteln amerikanische Verlage um die Gunst von neuen Lesern kämpfen – und warum es dabei wichtig ist, in möglichst großen und diversen Teams, oft auch branchenübergreifend, zusammenzuarbeiten. Immer schwang als Grundton diese Botschaft mit: Es geht nur gemeinsam, nicht gegeneinander.

Vertreter großer Medienunternehmen zeigten uns, wie sie Digital-Ideen um- oder Social-Media-Kanäle aufsetzten, welche funktionierten – und welche nicht. Denn das erspart anderen, dieselben teuren und zeitaufwändigen Fehler zu machen.

Heute bereits kooperieren Redaktionen verschiedener Medienunternehmen, wenn es um Recherche-Pools oder kollaborative Abteilungen für Daten-Journalismus geht. Zusammen mit Wettbewerbern auf dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt will ein großer deutscher Verlag einen Online-Kiosk zur Vermarktung von Medieninhalten übers Internet aufbauen. Um ihre Podcast-Inhalte besser an den Mann zu bringen: Dafür haben sich einige Medienhäuser bereits zusammengetan. Um ihre Artikel jeweils einem größeren Publikum zugänglich zu machen: Dafür tauschen eine deutsche Zeitung und ein österreichisches Magazin seit kurzem Texte aus. Gemeinsam trugen sie zuvor mit einer Investigativrecherche dazu bei, dass die Ibiza-Videos an die Öffentlichkeit gelangten – und einen politischen Skandal in Österreich auslösten.

Medienkrise als Chance, von anderen zu lernen

Wir Fellows untereinander – manche durchaus von konkurrierenden Unternehmen – unterstützen uns in allen nur erdenklichen Situationen: Das reicht vom Erstellen erster Podcasts oder 360-Grad-Videos über Blattkritiken für neue Formate. Und wenn ein junger Kollege fragt, wie er sich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereiten soll, geben ihm die Erfahreneren bereitwillig Rat.

Warum all diese Menschen sich kollaborativ verhalten? Weil sie alle dasselbe Ziel verfolgen: Der Qualitätsjournalismus soll nicht aussterben. Sie wollen nicht alle ihre Jobs verlieren, weil ihren Verlagsunternehmen in Zeiten des digitalen Wandels die Luft ausgeht. Üble Grabenkämpfe kosten zu viel Energie, die besser in Innovationen fließt. Und außerdem: Macht- und Verdrängungskämpfe münden darin, dass das ohnehin beschädigte Image von Verlagshäusern und Journalisten noch weiter geschwächt wird.

Diese hehre Idee der Kollaboration klappt vielleicht nicht immer. Sie ist auch nicht immer wünschenswert. Und natürlich wird ein Journalist nicht aufhören, den großen Scoop zu landen oder ein Verlag weiter daran arbeiten, das beste Digitalprodukt oder ein lukratives neues Zusatzgeschäft zum alleinigen Nutzen umzusetzen. Aber bei all dem, was unser ohnehin kompetitiver Job mit sich bringt, sollten wir nicht vergessen: Lasst uns dennoch anständig bleiben. Und dann zusammenarbeiten, wenn dies möglich und zuträglich ist.

Über die Autorin: Anne-Bärbel Köhle, Absolventin der Deutschen Journalistenschule, startete ihre Laufbahn als freie Journalistin in London. Sie war Redakteurin und arbeitete als CvD bei der Abendzeitung München, war Textchefin bei der Zeitschrift Freundin/Wellfit im Burda Verlag und ist heute Chefredakteurin des Patientenmagazins Diabetes Ratgeber im Wort & Bild Verlag. Als Dozentin lehrt sie an der Deutschen Journalistenschule, der Akademie der Bayerischen Presse und am Institut für Deutsche Sprache in Bozen.

Der Artikel ist der 16. Teil der von Prof. Stephan Weichert (Leiter des Digital Journalism Fellowships an der Hamburger Media School) herausgegebenen mehrteiligen Essay-Reihe mit dem Titel „Werteorientierte Digitalisierung“.